Vom Tal aus betrachtet stellt der Wildgrat die höchste Erhebung dar, die sich über das Inntal erhebt und in direktem, ununterbrochenen Anstieg zum Gipfel führt. Es ist dies sein langer Nordkamm, der als Bergrücken an der Mündung des Walder Baches zwischen Roppen und Arzl i. P. entspringt und über den Hochzeiger zum Wildgrat führt. Aufgrund der Länge des Kamms kann sein Gipfel nicht vom Inntal aus eingesehen werden.
Der zweite und der dritte Kamm, die ebenfalls zu nennen sind erheben sich östlich vom Hauptkamm und unterbrechen den Anstieg lediglich am Brechkogel, den ein etwas tiefer eingescharteter Grat vom ununterbrochenen Anstieg vom Wildgrat trennt. Die Stellung des Wildgrates ist somit eine zentrale, weshalb der gesamte nördliche Bereich des Geigenkamms Wildgratstock genannt wird. Entsprechend interessant ist es daher, diesen Gipfel, der annähernd als Dreitausender eingestuft werden könnte, zu besteigen.
Unser Aufstieg erfolgte von Umhausen aus über die Erlanger Hütte. Andi hat sich diesen Aufstieg zurechtgelegt, um auf den Spuren seines Vaters zu wandeln, der 1968 dort die Druckwasserleitung vom Wettersee zum Turbinenhaus errichtet und geschweißt hat. In großen Teilen hat die etwa 270m lange und etwa 200 mm Durchmesser messende Stahlrohr bis heute standgehalten.
Gleich vorweggenommen muß werden, daß der Aufstieg über die Schotterstraße bis zum Ende der Fahrstrecke unterhalb der Vorderen Leierstalalm heute wahrscheinlich kaum mehr begangen wird, denn diese Strecke wartet mit einer ungeheuren Länge ab Umhausen auf. Alle angetroffenen Aufsteigenden aus dem Ötztal benutzten entweder das Fahrzeug, oder das Stromradl.
Ebenfalls darf dem Nachfolger unserer Tour zur Warnung sowie dem örtlichen Ötztaler zur Erheiterung, bekanntgegeben werden, daß sich der untere Teil der Tourenplanung des Verfassers nicht zur Nachahmung eignet, es sei denn man möchte in brusthohem Gestrüpp und Brennnesseln landen. Die Planung sah vor den kurzen Steig am Kraftwerk vorbei neben dem Leiersbach zu nehmen, um rascher aufzusteigen. Dieser Steig wird wahrscheinlich seit vielen Jahren nicht mehr begangen und bis zu dschungelartigem Dickicht derart verwachsen ist, daß die Stöcke als Buschmesser verwendet werden mußten. Allerding merkten wir die Misere erst in einer Höhe, bei der ein Rückzug zeitlich nicht mehr in Frage gekommen wäre, weshalb wir die Fortsetzung der zeitraubenden Wegsuche durch das im feuchten engen Bachtal bestens sprießende Gestrüpp auf uns genommen haben.
Allerdings kann auch positiv berichtet werden, daß die Holzbrücke über den Fundusbach, bevor er in den Leiersbach mündet, noch intakt ist. Weiters schießen im Wald darüber auf jedem Quadratmeter Boden etwa ein halbes Kilo Pfifferlinge aus dem Boden, weil die Flächen relativ unzugänglich sind. Soviel zu den schönen Seiten des steilen alten Steigs, die Andis Vater damals sehr wahrscheinlich genommen haben muß. Der Brennnessel Wirkung hat uns fast bis zur Erlanger Hütte an diesen erlebnisreichen Abschnitt erinnert.
Am Rückweg über die Schotterstraße erlebten wir dann die für den Fahrzeugverkehr extra lange Variante und erhielten durch den langen Abstieg auf diesem die Bestätigung, daß eine Änderung des Aufstieges zeitlich unmöglich gewesen wäre.
Möglicherweise ist der Aufstieg über die Tumpener Seite des Leierstals eine bessere Variante oder man beugt sich – wie der Einheimische es uns vorzeigte – vor dem Fußmarsch bis zum Ende der Fahrstrecke und akzeptiert motorische Unterstützung, ob durch Taxi oder Stromradl.
Über den neuen Hochbehälter mitten im vorderen Leierstalwald erreichten wir bei einer Kehre ein kleines Jagdhüttchen, von dem ein ebenfalls völlig zugewachsener Steig taleinwärts zur Alm führen sollte. Dieser Steig ließ uns allein beim Anblick des mannshohen Gestrüpp ohne Worte umkehren und die ausgeschlägerte Waldschneise hinauf zur Schotterstraße nehmen.
Nun waren wir auf der für den Fußgänger zu flachen Schotterstraße und mußten Meter machen, um das Ende des Fahrwegs zu erreichen. Über einige Spitzkehren marschierten wir in gesteigertem Tempo bergan und erreichten nach eindreiviertel Stunden den Parkplatz auf 1.680 m Höhe. Vom Parkplatz vor der Holzbrücke in Östen auf 955 m bedeutete dies eine Steiggeschwindigkeit von nur 415 Hm/h, welche auf der Schotterstraße angenehm erreicht worden wäre, über unseren Anstieg jedoch enorm Kraft gekostet hat. Die Ausführlichkeit der Beschreibung dieser Passage soll den Zweck haben sich über dieses Teilstück Gedanken zu machen.
Am Ende des Fahrweges führt eine schmaler, beidseits von herein hängenden Farnen, Feuerkraut (schmalblättriges Weidenröschen) und Gestrüpp gesäumter schmalerer Weg zur Vorderen Leierstalalm, dem nächsten Wegpunkt.
Interessant dabei ist ein tückischer Rutschhang, durch den der Weg auf etwa 140 m wenig stabil gehalten werden kann und der bei Hochwettern Schaden leidet und auch wegbrechen kann.
Eine kurze Seilbahn mit einer Dieselkatze wurde errichtet, um die Almen und die Erlanger Hütte zu jeder Zeit versorgen zu können, im Fall, daß der Weg länger nicht intakt wäre. Umfangreiche Ankerungen oberhalb des Weges zeugen von schwierigen schiefrigen Bodenverhältnissen, ähnlich bei der Lueg Brücke auf der Brennerautobahn, wo man die stetige Hangrutschung negiert und wider besseren Wissens einen Neubau durchführen will, der in wenigen Jahrzehnten erneut dieselben Probleme verursacht. Da stellt die kleine Seilbahnstrecke im Leierstal eine vernünftigere, nachhaltigere Lösung dar.
Flach führt der Weg nach den schmalen Parkplätzen weiter, auf denen die Fahrzeuge der Almbauern und des Hüttenwirts abgestellt sind. Knapp zehn Minuten später erreicht man die Vordere Leierstalalm auf der anderen Talseite.
Dem Fahrweg ins Leierstal entlang, bis zur Linkskurve, bei der rechts die Abzweigung zur Erlanger Hütte beginnt, setzt der Anstieg fort. Die kleine Hütte selbst sieht man schon ganz markant vor der Überquerung des Leierstalbachs majestätisch in 750 Hm über dem Weg auf einem extra schön ausgewählten Standpunkt mitten über dem Tal aufragen.
Der Aufstieg zur Erlanger Hütte steilt mehr und mehr über die schönen Almwiesen auf und die Serpentinen führen in malerischem Gelände über blühende Wiesen und zwischen Felsen und dem tiefen Bacheinschnitt hindurch, in ein kleines Kar unterhalb der Rippe, auf der die Hütte errichtet wurde.
Über den eiszeitlich zu sanften, runden Formen geschliffenen Gneisglimmerschiefer erreichten wir die Erlanger Hütte auf ihrer härteren, daher höheren und weniger abgetragenen Rippe von Hornblendeschiefer, der die schöne Lage der Hütte ermöglicht.
An der Erlanger Hütte suchte Andi neugierig das Gelände nach der Rohrleitung zum Krafthaus ab, die sein kürzlich verstorbener Vater 1968 als Angestellter der Firma Geppert zu Hall i. Tirol aufgebaut und geschweißt hat – einer der Gründe diese Bergtour zu unternehmen. Im Bacheinschnitt südlich der Hütte fand er auch gleich wonach er suchte. Erfreut über das weit hinab überblickbare Werk beschlossen wir die nähere Untersuchung des Verlaufes der Konstruktion bei der Rückkehr vom Gipfel durchzuführen.
Westlich der Hütte, kaum fünf Minuten hinter einer flachen Kuppe versteckt, breitet sich der schön umrahmte Wettersee aus, ein gewisser Höhepunkt beim Hüttenbesuch. Bevor er erreicht wird passiert man eine kleine Lacke in seinem Abflußgebiet, nach der die Wasser im tiefen Einschnitt verschwinden.
Am See führt der Steig über das kleine Einlaufbauwerk der Kraftwerksanlage im Halbrund entlang der Südbegrenzung das Wettersees bald bergauf an den weiten Karkessel zwischen Dreirinnenkogel, Wildgrat und Brechkogel.
Moderat steil führ der Anstieg über das ehemalige Gletscherbecken auf den Grat, der – schließlich deutlicher ausgeprägt – auf den Gipfel des Wildgrats führt. Unterwegs kann man zuerst die geschliffenen hellen Flächen erkennen, die vom Gletscherrückgang freigelegt wurden und deren Mineral Biotit noch nicht die charakteristische rotbraune Verwitterungsfarbe zeigt.
An diesen hellen Flächen ist erkennbar, daß der Steig noch vor wahrscheinlich wenigen Jahrzehnten über Eis, zumindest aber über Firnbedeckung geführt hat, die den Sommer über dauerhaft erhalten blieb. Nördlich des Steigs, im Zentrum des ehemaligen Gletscherbeckens liegen gletschergeschliffene Rippen, deutlich sichtbar der Verwitterung unterlegen und anhand ihres Bewuchses bereits über Jahrhunderte bewachsen wurden.
Zum Grat hin trafen wir auf kleine Firnfelder am Steig. Sie treten in wenig geneigtem Gelände auf und sind leicht überquerbar. Etwa 15 Minuten von diesen entfernt wurde die Gratkante erreicht, die den Grat, der vom Wildgrat nach Osten verläuft, vom südlich anschließenden weiten Kessel „Galtes Kar“ trennt.
Über die zunächst leicht steigende Gratrippe wird nach ein paar Minuten in den schroffen, steilen Teil des Gipfelaufbaus eingestiegen, der vollständig von amphibolitischem Gestein gebildet wird. Über eine glatte, hohe Felsflanke erstiegen wir in deren Risssystem die erste Stufe des Grataufschwungs.
Anschließend wechselt der Steig auf die Nordseite und führt über ein kurzes Stück mit Blockwerk an einer glatten Wand entlang auf den Kopf des Gratsaufschwungs. Weiter führt der Steig über ein kurzes Flachstück in einen brüchig aussehenden jedoch stabilen Aufschwung ein, der in wenigen Minuten zum Gipfel führt.
Der Wildgrat begrüßte uns mit kalten Windböen und mit einer nicht der Beschreibung des schönen frei aufragenden Gipfels entsprechenden Fernsicht. Leider bot der Tag nicht die Wetterverhältnisse an denen man die zentralen Ötztaler Gipfel sehen konnte. Sie hielten sich während unseres Aufenthaltes weitgehend im Nebel verborgen.
Nach Süden hatten wir ein Wolkenfenster bis zum 28 km entfernten Weißen Kogel, immerhin ein Gipfel mit über 3.400 m Erhebung. Die Sicht auf die davon wenig weit entfernte Wildspitze blieb uns an diesem Tag verwehrt. Gleichfalls hielten sich die wilde Rofelewand und die umgebenden hohen Gipfel des Kaunergrats in Wolken und Nebel verborgen.
Im Westen konnte als hoher Berg der im Raum Landeck alles beherrschende Hohe Riffler vollständig eingesehen werden, die Parseierspitze, als höchster Berg der Nördlichen Kalkalpen hielt sich ebenfalls n Wolken gehüllt.
Nicht viel mehr Glück hatten wir mit der Aussicht nach Osten auf die Stubaier Alpen. Lediglich der mächtige Gipfel des Acherkogels im Tal gegenüber war zu sehen sowie der Blick durch das Sulztal auf die Mutterberger Seespitze in 25 km Entfernung.
Aufgrund der bei klarem Wetter weit über 1.000 sichtbaren Gipfel sei hier zum Trost ein bäriges Panorama am Wildgrat verlinkt, bei dem sich durch Klick auf den grünen Pfeil ein Durchlauf mit allen wesentlichen Gipfeln aktivieren läßt.
Mit einer kleinen Enttäuschung über die fehlende Fernsicht verließen wir den Wildgrat. War die Bewölkung noch während des Aufstiegs auf die Erlanger Hütte mäßig und in Aufklarung begriffen, so verdichtete sie sich am Weg nach der Hütte. Gleiches passierte uns nun beim Abstieg. Je tiefer wir stiegen, desto mehr schob sich die Wolkenuntergrenze nach oben und gab die nun nur mehr im Osten sichtbaren Stubaier Alpen frei.
Die kalten Windböen blieben uns bis hinab zum ehemaligen Gletscherbecken erhalten, in dessen Schutz es windstill und warm wurde. Aus diesem Grund wanderten wir um den See in den Andi zur Abkühlung hinein hüpfte.
Vor der netten kleinen Erlanger Hütte schritten wir die Rohrleitung ab und untersuchten die mittlerweile 56 Jahre alten Schweißnähte, die Andis Vater im Autogenverfahren stumpf geschweißt hatte und wie man an den Nahtwülsten erkennen kann unter Zuhilfenahme von Schweißdraht. Es muß schwierig gewesen sein, in der Natur eine optimale Schweißnahtvorbereitung und Ausrichtung der Rohrenden herzustellen.
Dank seines handwerklichen Geschicks überdauerte das Werk größtenteils die Unbilden von vielen Wintern und Sommern mit Temperaturschwankungen und Setzungen. Lediglich im unteren Teil mußten gebrochene Teile der Rohrleitung – wie wir vom Hüttenwirt erfuhren erst jüngst – gegen Polyäthylenrohre ausgetauscht werden, die zum Krafthaus führen. Es darf die Frage gestellt werden ob diese wohl ebenso lange ihren Dienst tun werden?
Mit einer Fallhöhe von etwa 60 m und dem Massenstrom einer 200 mm Rohrleitung kann eine Mitteldruckturbine, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Pelton-Laufrad betrieben werden. Rechnet man vorsichtig die Verluste der Rohrleitung mit Krümmern und Armaturen sowie der Turbine und des Generators, so kann von einer Nutzleistung von 20 bis max. 25 kW für die Hütte ausgegangen werden.
Sympathisch begrüßte uns die Hüttenwirtin und trotz der ungewöhnlichen Tageszeit konnten wir aus der gesamten Speisekarte auswählen.
Nach und nach während unserer Rast öffneten sich auf der Leeseite der Hütte die Blicke in die Stubaier Alpen mit dem phantastischen Panorama von Hochreichkopf, Zwieselbacher Rosskogel, Gleirscher Fernerkogel, Winnebacher Weißkogel, Breiter Grieskogel, Schrankogel, Mutterberger Seespitze, Wilder Freiger, Wilder Pfaff, dem Hinteren Daunkopf, dem Zuckerhütl, der Wilden Leck und dem auffallenden Spitz der Südlichen Atterkarspitze.
Andi war hin und weg vom Kaiserschmarrn wie auch Edits Knödel und die Spatzln des Verfassers vorzüglich mundeten. Dem Hüttenwirt übergab Andi eine kleine Fotodokumentation seines Vaters über die Arbeiten an der Rohrleitung und erfreut verließen wir das gastliche Haus.
Beim Abstieg ins Tal hatten wir vor der Brücke über den Leiersbach noch ein schönes jedoch selten gewordenes Erlebnis mit einer Kreuzotter, die in der Wiese abwartete, bis wir uns von unserer Rast erhoben, um den Weg frei zu haben, um in den Mauerklüften Unterschlupf zu suchen.
Wir saßen auf der Mauer und hatten sie völlig übersehen. Da wir im Sitzen keine Erschütterungen verursachten, flüchtete sie erst, als wir zum Abmarsch die Rucksäcke schulterten und – in ihrer Wahrnehmung – den Boden zum Erzittern brachten.
Den langen Weg über die Schotterstraße hinab nach Umhausen konnten wir auch mit bestem Willen nicht durch Steige abkürzen, da in allen Karten, die Outdooractive zu bieten hat, keine abkürzenden Routen zwischen den langen Serpentinen aufzufinden waren. Selbst den untersten eingezeichneten Steig, der wieder zum Kraftwerk führen sollte und mit einem Höhenunterschied von 150 Hm die letzte lange Serpentine ideal abgekürzt hätte, fanden wir völlig verwuchert vor. Also mußten wir für diese Strecke einen Umweg von zwei Kilometer in Kauf nehmen was darauf hindeutet, daß heute offensichtlich niemand mehr den Weg vom Talboden ins Leierstal unternimmt.
Für die schöne und leichte Bergtour haben wir mit allen Pausen 11:50 Stunden benötigt. Der Anstieg beträgt fast genau 2.000 Hm und die Streckenlänge von Östen aus (über die lange Strecke auf der Schotterstraße) 27 km. Unseren Anstieg über den Steig entlang des Bacheinschnitts sollte man unterlassen, allenfalls quäle man sich mit der Wegsuche über die zuvor beschriebene Abkürzung nach dem Kraftwerk links 150 Hm hinauf, dann beträgt die Streckenlänge lediglich 24,4 km, so wie auch bei unserer Route.
Mils, 04.08.2024