Das schier nicht enden wollende Schlechtwetter mit Schneefall bis unter 1.500m Seehöhe veranlaßt mich zu Beginn des Juni 2013, an den Computer gefesselt, weitere Nachforschungen über die frühe Bergsteigerei anzustellen und Carl Gsaller liefert hierzu für alle alpingeschichtlich Interessierten eine berichtenswerte, interessante und, wie ich meine, heute weitgehend unbekannte Beschreibung über das Verhältnis zwischen dem alteingesessenen und traditionell über Jahrhunderte unerschütterlich fest verankerten Jagdrecht und der beginnenden Entdeckung der Berge durch die ersten Pioniere des Alpinismus.
Carl Gsaller aus Innsbruck war einer der Erschließer der Gebirge rund um Innsbruck, des Stubaitales, und des Karwendels, eine kurze Biographie füge ich per Link am Ende dieses Artikels bei. Die Biographie deshalb weil es über Carl Gsaller paradoxerweise keine rasch zugänglichen Information zum Abruf im Internet gibt. Wikipedia kennt zwar einige seiner Erstbegehungen, jedoch gibt es keine Informationen über ihn selber. Ich habe es mir nicht leicht gemacht und mir allerlei erdenkliche Suchformulierungen ausgedacht, alle jedoch bescherten äußerst bescheidenen Erfolg und kaum Ausbeute über die Schriften des großen Sohnes Tirols. Dem Interessierten kann ich jedoch auf Anfrage einige weiterführende Links überlassen.
Es bleibt zu hoffen, daß Günter Amor mit seinem in Kürze erscheinenden, oder bereits im Handel erhältlichen Buch „Ein Bahnbrecher des Alpinismus“ eine kleine Renaissance des Interesses an Berichten über frühen Alpinismus und den lebhaften Schilderungen Carl Gsallers, einem der großen der damaligen Pioniere und, nach allen Beschreibungen meiner bisherigen Recherchen, der erste „Extremkletterer“ seiner Zeit einleiten wird.
Wir schreiben das Jahr 1878 als Gsaller sich die Besteigung des Großen Bettelwurfes vornimmt und diesen, nach dem unbeabsichtigtem Umweg über den Kleinen Bettelwurf, schlußendlich in einer Kraftaktion, bei widrigem Wetter, mit festem Willen auch bezwingt. Wohl gewahr und, wie er schreibt, einigermaßen angestachelt davon, daß Hermann von Barth dies bereits 1870 als Erstbesteiger geschafft hat macht er sich von Innsbruck aus ins Halltal auf. Aber mehr davon in einem anderen Artikel.
In seinem Buch, bzw. Bericht „Aus dem Karwendel- und Risser-Gebirge“ beschreibt er im ersten Kapitel „Allgemeines“ zunächst eine interessante, aber nach heutiger Ordnung nicht mehr gebräuchliche Einteilung der Gebirgsketten des Karwendels und wechselt dann über in dasselbe Thema, das auch Hermann von Barth als sehr unangenehm beschreibt und zwar, daß es im Karwendel einen sehr zu beklagenden Mangel an hochgelegenen Übernachtungsmöglichkeiten, also heute Schutzhütten, gäbe.
Man kann also daraus ersehen, daß dieser Umstand ein mehrfach bemerktes echtes Manko für die – sagen wir – Extremsportler der damaligen Zeit gewesen sein muß.
Gut vorstellen kann sich das jeder selber, wenn er Bergtouren in die hinteren Ketten des Halltales, oder auf die Gipfel westseits des Stempeljoches unternimmt und die verkorkste, ungelöste Situation mit der Sperrung der Halltalstraße seit dem Jahr 2012 kennt. Man benötigt einfach bis zum Schranken beim Ferdinand eine Stunde mehr Aufstiegszeit und büßt dies, nach langer Tour, auch ein zweites Mal am Rückweg ein.
Für die extremsten der Karwendelpioniere war dies natürlich, auf Tour zu den höchsten Spitzen dieser Kämme, eine echte Herausforderung und deshalb nahm man kaum fassbare Strecken an einem Tag in Angriff; extreme Strecken zu Fuß zu gehen war in diesen Tagen ohnehin an der Tagesordnung wie man immer wieder beim Lesen der Berichte, auch z. B. der Wilden Bande, erfährt. So liest man bei Gsallers Anreise zu den Herrenhäusern, daß er am Abend in Innsbruck losmarschiert ist und um elf Uhr Nachts bei den Herrenhäusern ankam. Eine Strecke bei der man heute nicht einmal daran denken würde, sie per pedes zu absolvieren.
Auch für die Orientierung der aufstrebenden Riege der Bergsteiger , für die immer weiter zunehmende Masse an Bergbegeisterten in ihren Aktionsgebieten, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wurden von den in den 1860er Jahren gegründeten Bergsteigerclubs und des Österreichischen Alpenvereines Karten angefertigt und Steige mit Wegmarkierungen (möglicherweise schon mit Wegenummern) angelegt.
Denkt man heute über diese ersten „Infrastrukturmaßnahmen“ der Vereine für ihre Mitglieder nach, so würde man meinen, daß diese rein aus eben dem Orientierungsgedanken heraus angelegt worden sind. Jedoch weit gefehlt, wenn man Carl Gsaller liest, man genieße folgende Beschreibung Gsallers über unglaubliche Zustände durch der Herrschaft des Jagdrechtes!
Text aus Carl Gsaller: „Aus dem Karwendel- und Risser-Gebirge“, Kapitel „Allgemeines“
…Jedoch sei wohl bemerkt, dass es den Knappen im Hallthal eigentlich verboten ist, Fremde zu beherbergen, und wenn es trotzdem geschieht, so rechtfertigt man sich eben mit Menschlichkeitsrücksichten. Freilich darf auch lobend erwähnt werden, dass die Bergbeamten genannte Vorschrift mit grösster Nachsicht handhaben. Auch die Vereinsalpe bei Mittenwald sei angeführt, da sie Alpenkost, Kaffee, Bier und Branntwein bietet. Wer jedoch auch Nachtlager wünscht, muss sich dasselbe vom jeweiligen Jäger im Pürschhaus erbitten, da die Aelpler als Pächter des Jagdherrn keine Touristen beherbergen dürfen und die Jagdverwaltung die Schritte der Touristen genau kennen will. Indess findet sich für den Nothfall auch in der Alpe selbst Unterkunft, wenn man, ohne lange zu fragen, bis zur Nacht sitzen bleibt. Der Aelpler hat dann die Rechtfertigung, er hätte den Menschen aus Barmherzigkeit hier behalten müssen! Am allerschlechtesten ist es mit der Unterkunft im Hinterauthal und im Vomperloch bestellt. Im ersteren finden sich nur einige Alpen, deren Senner oft unsichtbar bleibt, als Ruhestätten, im letzteren selbst solche nicht. Wer also Bequemlichkeit wünscht, muss sich an die äusseren Grenzen des Karwendel-Gebirges halten oder sich mit Thal-und Uebergangstouren begnügen, wer aber gar den Anspruch erhebt, ein gern gesehener Gast zu sein, der thue noch mehr desgleichen. Fast das ganze Gebiet befindet sich eben in den Händen einiger hoher Jagdherren, unter denen der Herzog von Coburg, der sich in der Hinterriss eine Art Jagdkönigreich gegründet hat, in erster Linie hervorragt. Auch die meisten Alpen innerhalb seines Machtbereiches sind ihm eigenthümlich. Der Viehauftrieb wird daher genau bestimmt, Schafe und Ziegen sind ganz verboten, Rindvieh wird nur in beschränkter Zahl zugelassen, mit den Alpenpächtern selbst wenig Federlesens gemacht. Und wenn der Tourist in vielen Thälern des Karwendel-Gebirges die Wegmarken des Alpenvereins findet, Wegmarken, die von den Jagdverwaltungen gestattet wurden, so denke er ja an kein Wohlwollen von Seite der letzteren, o nein! Die Wegzeiger tragen im Sinne der Jagdbesitzer die Bedeutung, den Touristen genau zu lehren, wie er am schnellsten aus diesem geheiligten Gebiete der Hirsche und Gemsen wieder hinausfinden könne. Aehnliches kann man auch mündlich vernehmen. So bekam der Verfasser vom Forstverwalter Platz in der Scharnitz einmal zu hören, „man müsse diesen Herren entgegenkommen, um sie baldigst wieder hinauszubringen“.
Da in dieser Beziehung der Rechtsstandpunkt strittig erscheint, so bleibt es immer am klügsten, sich mit den Jägern auf guten Fuss zu stellen, über die Zeit der Jagden Erkundigungen einzuziehen und während derselben, sowie vierzehn Tage (wenn durchaus gewünscht, noch längere Zeit) vorher das betreffende Thal u. s. w. zu meiden. So ist der Verfasser vorgegangen und dabei gut gefahren. Um scheele Blicke einzelner Jäger aber kümmere man sich nicht! Ich will übrigens dem freundlichen Leser noch mittheilen, was mir der verstorbene Wildmeister Risser, zugleich Besitzer des Alpenhofes in der Hinterriss, als Wunsch der herzoglich Coburg’schen Jagdverwaltung bezeichnete. „Die Jagdverwaltung wünscht in erster Linie, dass sich der Tourist in jedem Falle vor seiner Bergtour mit ihr ins Einvernehmen setze, wobei gewiss keine nicht durch das Jagdinteresse gebotenen Hindernisse erhoben werden. Besonders zu achten ist auf die Zeit vom 20. Juli bis 10. August, in welcher die Hirschjagden des Herzogs leicht gestört werden können, ebenso auf die Zeit etwa vom 26. September bis 10. October, welche die Brunftzeit der Hirschen darstellt. Alles muthwillige Ablassen von Steinen, alles Schreien und Schiessen ist zu vermeiden.“ Risser legte also, entgegen sonstigen Anschauungen, den Störungen der Gemsen durch Touristen nicht viel Werth bei, er hielt die Ruhe des Hirschwildes vor Allem wichtig. Derselbe erklärte ferner, dass Jochübergänge von Seite der Touristen, z. B. von Hinterriss nach Bächenthal, für das Wild wenig empfindlich seien, weil dasselbe auf solchen Linien mehr an den Menschen gewöhnt erscheine; auch bringe es dem Jagdherrn weniger Nachtheil, wenn seine Verwaltung vor Beginn der Jagd den erfolgten Durchzug eines Menschen erfahre, da man in diesem Falle durch geeignete Aenderung des Treibens das Wild dennoch zusammenbringe.
Damit glaube ich nun, die Verhältnisse dieses Gebietes in grossen Zügen geschildert zu haben…
Der Herzog von Coburg als Jagdbesitzer war also ein weitgehend unumschränkter Herrscher und seine Jäger vollzogen das Jagdrecht relativ harsch, den Neuankömmlingen im Gebirge gegenüber.
Man muß sich vorstellen, daß die Aelpler (also die Bauern die eine Alm betrieben haben) sogar Pächter des Jagdherrn waren (sie selbst hatten also keinerlei Recht an den Bergwiesen der Alm) und sie durften keine Touristen beherbergen. Weiters wollte die Jagdverwaltung die Schritte der Touristen genau kennen! Besonders zu achten sei auf gewisse Zeiten, in welchen die Hirschjagden des Herzogs leicht gestört werden können!
Man kann es kaum glauben, die Jagd, der omnipotente Beherrscher des Karwendel noch vor 135 Jahren; so mutet diese Situation jedem Leser an (ich kann mich daran erinnern vor einigen Jahren bei einem Freund das Manuskript seiner bevorstehenden Jagdprüfung gelesen zu haben und darin heutzutage kaum zu glaubende Gesetze gefunden zu haben. So beispielsweise, daß ein Jäger einen Wanderer perlustrieren darf als wäre er ein Polizist (wenn er in irgendeiner Weise verdächtig auffiele, oder „Abwurfstangen“ mit sich trüge). Es scheint, daß sich einige dieser archaischen Gebräuche, genannt „Jagdrecht“, bis in das dritte Jahrtausend retten konnten).
Andererseits muß man im Vergleich zu Gsallers Text einräumen, daß in den USA die Sklaverei auch erst vor 135 Jahren abgeschafft wurde.
Interessant wäre in diesem Zusammenhang zu wissen welche Summen an Pacht für die schier unerschöpflichen Gebiete an den Besitzer (hoffentlich das Land Tirol) bezahlt wurde und wie es zweckgebunden der Bevölkerung wieder zugute kam. Aber dies ist ein anderes Kapitel, hier liese sich stundenlang recherchieren.
Von Carl Gsaller werde ich bei nächster Gelegenheit noch die Erstbesteigung des Kleinen Bettelwurf kommentieren, auch ein Bericht in „Aus dem Karwendel- und Risser-Gebirge“.
Mils, 02.06.2013