So sanft die Gleierschtal-Halltalkette von der Sichtung von Scharnitz aus beginnt, so bizarr und wild setzen die ersten Gratübergänge östlich des Hohen Gleirsch fort und der Übergang zur Innere Rigelkarspitze stellt im Gratverlauf zu den Jägerkarspitzen die große Herausforderung dar.
Schon lange beschäftigt mich der westliche Teil dieser heimatlichen Karwendelkette, weswegen die zentrale Erhebung der Tour darin bestand, die Inneren Rigelkarspitze nun erstmalig auf leichtem Wege zu erkunden.
Gleich bei der Morgentoilette beleidigte ich beim Bücken zum Wasserhahn hin irgendeine Bandscheibe weit unten – was bei mir nur alle zwei Jahre vorkommt – und mußte selbst während der Anfahrt nach Scharnitz um 7 Uhr noch feststellen, daß diese unbewußte Bewegung längerfristige Konsequenzen haben würde. Also am Radl in Gleirschtal – ich pflege trotz meines hohen Alters noch nicht mit einem Stromradl aufzusteigen – verschwand die Einschränkung nicht und es kann an dieser Stelle schon vorweggenommen werden, daß bis zurück zum Schreibtisch, an dem diese Zeilen entstehen, die mittelmäßig stark spürbare Rebellion der Gummischeibe nicht zur Ruhe gekommen ist. Gut, daß es morgen regnen wird.
Die Anreise bis knapp vor die Möslalm muß hier nicht erwähnt werden, dafür gibt es Berichte und Webseiten genug; erwähnt sei nur, daß zur Anfahrt ein Rad für den Bergsteiger nottut, will er zu früher Stund zum Ausgangspunkt zu gelangen und weiters sei erwähnt, daß er für die Anreise vom Parkplatz Scharnitz bis knapp vor die Möslalm, wo das Radl in den Wald geworfen werden kann um das Schloss zu sparen, mit einem Stündchen mittelstarke Beinarbeit für ca. 10km über knapp 300Hm rechnen möge.
Gleich zu Beginn des Aufstieges darf man sich dieser Tage auf etwa 1.300m eines wahrlich ästhetischen, man könnte sagen zierlich, jungfräulichen Anblickes einer nicht sehr häufigen Orchideenart im Karwendel erfreuen, das Rote Waldvögelein, eine Alpenlilie, geleitet in der Morgensonne am Jagdsteig durch den eigenartig schönen, naturbelassenen, lichten Nadelwald und die außergewöhnliche kräftige violette Farbe der Blüten, zurückzuführen auf den passenden, leicht sauren, pH-Wert des Kalkbodens, vermag die Kamera im Morgenlicht bei weitem nicht so zauberhaft wiederzugeben, wie das Auge sie in natura wahrnimmt.
Bald ist die Abzweigung des excellent ausgeschnittenen Steiges zum Hohen Gleirsch erreicht und der Bergsteiger, der den eindrucksvollen Kessel des Rigelkares beschreiten will, zweigt nicht links zum Grat zum Hohen Gleiersch ab, er nimmt die gerade Richtung durch die breite Latschengasse mit den auffälligen Markierungen auf zwei Felsbrocken mit „R“ in das lange, weite Rigelkar.
Von der Abzweigung sind es gut 500Hm bis der Karboden des Rigelkares erreicht ist. Alleine die Eintrittskarte dieses langen Anmarsches ist schon bezeichnend für das schöne, einsame Rigelkar.
Am fast horizontalen Karboden können Dolinen in einer frappierenden Gleichmäßigkeit ihrer geometrischen Abfolge beobachtet werden, die für mich einzigartig im Karwendel ist und die auf einige interessante Gegebenheiten tief unter den Karwiesen schließen lassen.
Messerstichkalkgeröll (Kalkfels mit schmalen Rissen aussehend wie schmale Messerstiche) und die wahrlich menschenscheuesten Gämsen im Karwendel runden die Szenerie im Kar ab. Alleine für diese Eigenheiten hat das Rigelkar den Aufstieg über knapp 1.000Hm schon verdient. Der Bergsteiger wird mit kostbaren Eindrücken reich entschädigt, bevor es hinein die Rinnen und Zinnen geht.
Im hintersten Karboden halten sich die Lawinenreste meist hartnäckig bis in den Juli hinein und geben der dieser Tage schon strapazierten Trinkflasche wieder etwas Inhalt, soferne man immer warmen Tee mitnimmt, der es mit den fast zu Eis gewordenen Firn aufnimmt und noch trinkbare Mischung erzeugt, ohne daß aufgrund der Kälte Magenkrämpfe entstehen.
Nun steht ein Stück Aufstieg am Programm, das im Kopfe schwer werden kann, wenn man es zu sehr sitzen läßt. Der Anstieg aus dem Karboden zur schon von Weitem sichtbaren Aufstiegsrinne durch die Südwand zur Inneren Rigelkarspitze beginnt nämlich mit ca. 200Hm Reisengeröll.
Bei guter Routenwahl durch die Verschneidung der Reisenkegel mit großem Blockwerk kann das unangenehme pilgerschrittartige Zurückrutschen in praller Sonnenbestrahlung auch auf einem erträglichen Minimum gehalten werden und der Kopf siegt in diesem Fall nicht, man steigt beim Erreichen des festen Felses gut gelaunt aus dem üblen Teil dieser Partie aus.
Die Rinne ist nach gut 20min erreicht, sie durchzieht die Südwand in nordöstlicher Richtung und daher haben wir sie bei unserer Erstbegehung auf die Jägerkarspitzen nicht sofort entdeckt.
Den unteren Teil der nun zu begehenden Rinne lasse man mangels Tritten und der Abgeschliffenheit der seitlichen Begrenzungen der 50cm breiten Rinne weg, man steige rechts im Fels ca. 15Hm weiter an und quere dann nach links in griffiges Rinnengelände.
Wenn man sich mit dem Erscheinungsbild der Inneren Rigelkarspitze aber etwas beschäftigt, dann sieht man die Rinne schon von Weitem. Besonders bezeichnend ist der Klemmblock, der am obersten Gratverlauf ein Licht-/Schattenspiel bietet das vom äußersten Karboden bereits gesichtet werden kann. Steht man dann vor diesem Kamin, dann würde man nicht glauben, daß ein Klemmblock dieser Größe von über 1.000m Luftlinie sichtbar ist.
Nun geht es in diesem Riß, oder Rinne, gut griffig mit moderater Steilheit nach oben, so daß für diesen Anstieg großteils die Schwierigkeit II vergeben werden kann; die Führerangabe durch die Erstersteiger vor 120 Jahren mit I erscheint zumindest nach heutiger Geländeeinschätzung leicht untertrieben.
Der Fels links weniger, rechts jedoch signifikant mehr, ist erstaunlich fest. Bei der Begehung in der Gruppe empfiehlt sich doch ein Kopfschutz, da durch die seltene Begehung viel Geröll in der Rinne angetroffen wird, der auf die Nachsteigenden niedergeht.
Der Aufstieg erfolgt selbst im Juni fast bis zur Mittagszeit recht gut vor Sonne geschützt, deshalb dürfte die Rinne auch bis weit ins Frühjahr hinein mit Restschnee gefüllt sein und die Tourenplanung sollte diesen Umstand berücksichtigen.
Knapp unterhalb der Gratlinie oben verjüngt sich die Rinne zum Kamin und, betritt man diesen sehr schmalen Kamin, schlägt sofort der Gratwind durch; man weiß also, daß die vertikale Nordseite lediglich die zwei bis drei Meter hinter dem Kamin hinunterpfeift. Für mich und den Rucksack war der Kamin aber zu schmal und weil ich alleine unterwegs war wollte ich keine Experimente zur Schlankheit unternehmen, um unbedingt durch den Kamin die Grathöhe zu erreichen.
Anstelle des schmalen Schlufes entschied ich mich das genügend breite Band zu meiner Linken (westlich) zu nehmen, um auf die Grathöhe zu gelangen. Nach einigen Rippen gelang es mir auch halbwegs bequem die ca. 3-4m hohe Felsplatte über dem Band zu erklimmen, die, erdgeschichtlich betrachtet, sicher ein gutes Dutzend von Hunderttausend Jahren für ihre Entstehung gebraucht hat und die durch eine weiche Trennschicht so markant auf der harten Oberfläche des Bandes draufliegt, daß man die Zeitepochen der Entstehung fühlen kann. Im Übrigen ist die Trennschicht geologisch von so schlechtem Fels gebaut, daß sich die an deren Basis entstehenden Einbuchtungen als Notunterschlupf bei Wettersturz eignen würden; ein nicht unbekanntes Phänomen im immer lebendigen Karwendelkalk.
Das moderat aufwärts gerichteten Band kann problemlos beschritten werden, bis eine geeignete Stelle für den Aufstieg zur absoluten Grathöhe gefunden wird, wobei in meinem Fall eine ehe konservativer Aufstieg in zwar brüchigem Gelände, dafür aber ohne großem Risiko gewählt wurde. Knackigere Stellen für junge Gämsen gibt es genug.
Der Grat selber mutet sichtlich selektiver an als das meiste, das standardmäßig im östlichen Teil der Kette zu finden ist, mangelt es an Türmchen in der direkten Gratlinie und schmalen Parteien doch keineswegs. Selbst der mit II beschriebene weitere Gratverlauf zur Nördlichen Jägerkarspitze erscheint ab dem Kamin keineswegs einfach.
Leider konnte ich kaum Erkundungen zu beiden Gratseiten anstellen, denn die hohe dunkelgraue Wolkenfront über der Hohen Munde überredete mich zur schnellen Gipfelrast mit hastiger Jause und frühem Abstieg. Ein Gewitter am derart selektiven Grat wäre nicht das wofür ich heute losgezogen bin.
Zu meiner Bandscheibenbeleidigung heute früh kam zu allem Überfluss auch noch der Pflanz des Wetters dazu, denn nach dem übereilten Abstieg klärte sich das fälschlich als Ungemach erkannte Wetter von Westen und ich ärgerte mich darüber, daß der Grat nun nicht weitläufiger erkundet werden konnte. Ein weiterer Aufstieg hierzu zur Inneren Rigelkarspitze muß nun leider baldigst her.
Der eingefleischte Karwendelliebhaber wird den wilden Grat mögen, das Erscheinungsbild ist dermaßen archaisch und unberührt, daß man seinesgleichen auf den höchsten Fluren weithin sucht. Der Verwitterungsgrad an der Oberfläche des Gerölls und dessen Rauheit ist von der recht seltenen Art, die nur in den sehr wenig begangenen Gratabschnitten der Kette zu finden ist, insgesamt ein faszinierend Gelände.
Die Blicke zu allen Seiten der Schneide müssen jeden Karwendelgeher beeindrucken, mag er auch noch so extrem sein. Tiefblicke in das Hinterautal und eine viele Hundert Meter abstürzende Nordwand bleiben lange eingebrannt.
Solch exponierte Spitzen in Gratverläufen besitzen meist kein Gipfelkreuz mehr, die Innere Rigelkarspitze wartet dem Bezwinger mit einem schlichten Gipfelsteinmann auf und diese Auftürmung befindet sich noch nicht einmal auf der höchsten Erhebung, die sich entweder als ein schlichtes schneidiges Grattürmchen 15m weiter westlich oder am Zustieg an dem das folgende Fotos entstanden ist präsentiert. Vom Katzenkopf aus sieht die östliche Erhebung leicht höher aus, siehe Gratfoto in der Galerie.
Heute nicht ganz mein Tag, die Grundmission aber ausgeführt geht es nach einem raschen Moment des Dankes für den geglückten Aufstieg am kurzen Gratstück zurück zur Rinne. Noch ein kleiner Moment des Innehaltens, ob des herrlich aussehenden Kamines, aber nein, die Vorfreude über die nächste Begehung soll die schöne Stelle konservieren, es geht wieder abwärts und zwar gar nicht so unbequem wie man schlechthin Abstiege in Rinnen im Karwendel kennt.
Die letzte erwähnenswerte Stelle ist der ganz unterste Teil der Rinne, der weiter oben im Text schon erwähnt wurde. Ich vergaß ihn, kletterte gedankenlos weiter hinab, kokettierte einen Augenblick mit einem drei Meter Sprung, verweigerte aber mit der Erfahrung des Alters, kletterte 10m zurück und nahm den griffigen Felsabstieg.
Der Rest im Abstieg ist nicht erwähnenswert und im Karboden schon kam leichter Ärger ob des blauen Himmels über der Hohen Munde auf. Die Wirtsleute der Möslalm aber vertreiben den Ärger mit deren tollen Angebot…
Gehzeit ab kurz vor der Möslalm und bis zur selben Stelle zurück ca. 5 Stunden (Radlstrecke zusätzlich ca. 1h rauf + 40min ab), ab Scharnitz ~ 1.500Hm
Mils, 24.06.2017